1915-1916 | Les tablettes, Mai 1918

Übersiedelung in die Schweiz

Masereel übersiedelt mit seiner Familie in die Schweiz und läßt sich in Genf nieder, wo er Henri Guilbeaux wieder trifft, der ihn in der Folgezeit in die literarischen und politischen Kreise der dortigen Kriegsgegner einführt;er arbeitet an „Demain“ mit, der Zeitschrift von Guilbeaux; gemeinsam mit Claude le Maguet (Claude Salives) Gründung der gegen den Krieg gerichteten Zeitschrift „Les Tablettes“, für die er 47 Holzschnitte bis 1919 schneidet.

„Vorms: Sie mußten doch einen plausiblen Vorwand für diese Reise nach der Schweiz haben.

Masereel: Der Vorwand war ein Versprechen von Guilbeaux, mich mit Romain Rolland in Verbindung zu bringen, der meine Mitarbeit beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes akzeptierte.

Vorms: Eine schon organisierte Mitarbeit?

Masereel: Ja, Guilbeaux hatte das schon eingefädelt. Ich konnte also die französisch-schweizerische Grenze vorschriftsmäßig passieren, und als ich in Genf ankam, hab ich unverzüglich beim Sitz des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes die Bekanntschaft Romain Rollands gemacht. Ich habe dort einige Zeit lang als Übersetzer von flämischen, deutschen und anderen Briefen gearbeitet, die von Kriegsgefangenen geschrieben waren. (…)

Vorms: Wie waren Ihre materiellen Existenzgrundlagen in Genf? Wurden Sie vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes besoldet?

Masereel: Nein, ich arbeitete dort freiwillig. Ich hatte jedoch etwas persönlich Existenzmittel.”

(Gespräche 1967, S. 24/29 und S. 32)

René Arcos

“Ich bin Masereel 1916 in Genf begegnet. Von seinem Land, dem flämischen Belgien, seit dem Anfang des Krieges getrennt, kämpfte er gegen materielle Schwierigkeiten, die damals schier unüberwindlich schienen, die er aber mit ungewöhnlichem Gleichmut ertrug. Ein sehr schwarzer, imposanter Bart verlängerte sein Gesicht. Ich entsinne mich, dass er einen Anzug aus breitgeripptem Samt trug. Auf den ersten Blick hätte man ihn für den sympathischsten aller arbeitslosen Kumpel halten können (…)

Wir waren damals Nachbarn, und ich sehe ihn noch in dem Holzhäuschen, das er bewohnte. Diese alte schwarze Baracke, von einem großen Park mit hundertjährigen Bäumen umringt, hatte als Hauptbewohner eine Wäscherin. Die gab die Zimmer, die sie nicht brauchte, in Untermiete ab. Wie staunte sie, als sie aus einem dieser Zimmer, das sie an einen emigrierten russischen Revolutionär vermietet hatte, wenige Tage später, schon am frühen Morgen, eine kleine Karawane herauskommen sah, ein Dutzend Männer mit mehr oder weniger struppigem Aussehen, wo sie doch das Zimmer nur an einen einzigen vermietet hatte! Die Verbannten litten alle an Geldknappheit und konnten sich nicht ein Zimmer pro Mann leisten. Wie bewohnten das Viertel, in dem Lenin selbst lange Zeit zu Hause war. Man begegnete ihm im Tram von Lancy, aber wir wußten damals beinahe nichts von ihm.”

(Frans Masereel. Der Mann und das Werk, in: “Internationale Literatur” (Moskau), Jg. 1935 H. 8, S. 93 u. S. 97)

Claude Le Maguet: Ein Ziel verfolgen

“Kunst um der Kunst willen erscheint von unserem Gesichtspunkt der menschlichen Erneuerung aus gesehen als die gefährlichste aller Verirrungen. Der Ästhetizismus führt zu gegen die Natur gerichteten Verfeinerungen. Alles, was das Leben entstellt, vermindert, zerstört, ist das Gegenteil der Schönheit. Jedes Gefühl, das nicht von einem großen schöpferischen Empfinden ausgeht, liegt außerhalb des Gebietes der Kunst. Die Bestimmung der Kunst muß sein, das Leben zu intensivieren, auszuweiten, zu erhöhen; es zu verherrlichen, es lieben zu lehren.”

(“Les Tablettes”, 1. Jg. Nr. 2, November 1916, S. 2)


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