Besuch der Akademie in Gent

„Ich habe auf der Mittelschule angefangen und habe dann das Athenäum besucht, das in Frankreich einem Lyzeum entspricht. Alsdann bin ich an der Kunstschule in Gent zugelassen worden, die zu der Zeit von dem Maler Jean Delvin geleitet wurde. Ich habe dort keine langen Studien getrieben, und mein Fleiß war ein wenig Launen unterworfen. Nach einundeinhalb bis zwei Jahren hat mir Delvin geraten, die Schule zu verlassen, wobei er bemerkte, dass für mich dort nichts mehr zu lernen sei. Er wußte wahrscheinlich, dass meine Eltern bemittelt waren, wie man damals zu sagen pflegte, und dass ich infolgedessen reisen und mich dabei ganz allein entwickeln konnte, was er mir übrigens auch empfohlen hat. Abgesehen von der Schule besuchte ich zu dieser Zeit häufig den Kupferstecher Jules de Bruycker, der ein ganzes Stück älter war als ich, doch waren wir trotzdem gute Kameraden; unsere Beziehungen waren nicht die zwischen Lehrer und Schüler. Es ist anzunehmen, dass ich viel älter erschien, als ich war, jedenfalls fühlten wir uns vollkommen auf der gleichen Ebene. Wir hatten wahrscheinlich aneinander ein wenig verwandte Züge gefunden. Er vertrieb sich zum Beispiel die Zeit damit, mich zu porträtieren, wir ergingen uns zusammen in dem alten Gent, und dabei sprachen wir miteinander immer reines Gentisch. Ich glaube, dass mir Jules de Bruycker viel beigebracht hat, ja dieser Mann, dieser Künstler war es, der mich in meinen Jugendjahren sogar ein wenig beeinflußt hat.“ (Pierre Vorms: Gespräche mit Frans Masereel. Dresden 1967, S. 12)

Georges Chabot
„Ich kannte Masereel, früher, an der Kunstakademie unserer Stadt. Wir waren gemeinsam in der Gips-Zeichenklasse und ich erkannte schnell seine Originalität. Zweifellos, er war nicht wie die anderen. Sie bewunderten besonders Carrière oder Degas, er aber schwor nur auf Steinlen, Forain, Veber oder unseren Jules de Bruycker. Man ahnte, dass er – später – etwas zu sagen haben würde. Wie war er manchmal eigenwillig! Eines Tages, als die Wettbewerbe nahten, schlug uns der Professor als Modell die berühmten römischen Kämpfer des Museums von Neapel vor. Der brave Lehrer vollführte eine nachdrückliche Geste, schwieg lang und rief dann feierlich aus: ‘Hier, meine Herren, die schönste Skulptur, die uns die Antike hinterlassen hat.’ Der lange Masereel ließ ein dumpfes Knurren hören, rammte die Hände in die Hosentaschen, setzte seine Stelzen in Bewegung und … verließ den Saal, um niemals wiederzukommen. Ich sah ihn später im Kurs von Delvin wieder, und ich wurde in dieser Klasse, in der nach dem lebenden Modell gearbeitet wurde, Zeuge einer wichtigen Szene für sein Leben als Künstler. Stellen Sie sich vor: Masereel ächzte seit einer Stunde über seiner Arbeit, dann aber näherte sich – förmlich wie immer – Jean Delvin und begann, die Zeichnung des Schülers zu begutachten. Lange Minuten wahrte er ein zunehmend beunruhigendes Schweigen. Plötzlich hielt Masereel es nicht mehr aus und rief: ‘Wenn ich nach dem Modell arbeite, bringe ich nichts Ordentliches zustande, dabei läuft alles wie von selbst, wenn ich aus dem Gedächtnis arbeite.’… Erneutes, noch längeres Schweigen … Auf einmal setzt sich Delvin in Bewegung, packt die Staffelei Masereels und dreht sie um; er setzt den Schüler mit dem Rücken zum Modell und ordnet an: ‘Von nun an arbeiten Sie so; ich verbiete Ihnen, den guten Mann zu betrachten, außer um sich der menschlichen Gestalt zu vergewissern.’ Der große Lehrer hatte an diesem Abend Masereel einen großen Dienst erwiesen; der machte seitdem nur noch Kunst aus der Vorstellung.“ („Grand artistique“, 4. Jg. Nr. 8, August 1925, S. 165)


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