1919 | Mein Stundenbuch

Mein Stundenbuch

Veröffentlichung von „Mon Livre d‘Heures“ im Selbstverlag; gemeinsam mit René Arcos Gründung des Verlages „Editions du Sablier“; dort erscheint auch die Bildergeschichte „Le Soleil“.

„Wenn ich mich recht erinnere, empfand ich das Bedürfnis, all diesen Kriegsdarstellungen zu entfliehen. Also habe ich mich etwas mehr meinem Inneren zugewendet. Mit dem ‚Stundenbuch‘ wollte ich mich von dem, was ich alle Tage tat, loslösen, das heißt von meinen Kritiken, meinen Satiren, meinen Anklagen gegen den Krieg und von dem Ungestüm meines Ausdrucks; wahrscheinlich wollte ich etwas anderes ausdrücken, und so habe ich mit meiner Geschichte autobiographischen Charakters begonnen, die ich ein wenig romantisierte. Ich glaube, dass darin das Wesentliche von dem liegt, was ich sagen wollte; ich drückte darin ein wenig meine Philosophie aus, und vielleicht enthält ‚Mein Stundenbuch‘ mit seinen 167 Holzschnitten potentiell alles das, was ich danach geschaffen habe, denn ich habe woanders und später eine ganze Anzahl von Themen daraus entwickelt.“ (Gespräche 1967, S. 43/44)

Brief Henry van de Veldes vom 21. Mai

„Aber ich werde mir eben bewusst, dass ich Ihnen noch gar nichts über den hohen künstlerischen Wert des ‚livre d‘heures‘ gesagt habe. Wohl weil sich das von selbst versteht und weil ich eine so tiefe Überzeugung von seinem Wert habe und eine so lebhafte Bewunderung für Ihr Werk empfinde? Was mich am meisten überrascht hat an diesem Werk, das ist die Schärfe Ihrer Betrachtung, die, ohne dass sie dort hervortritt, d.h. ohne die geringste sichtbare Mühe, ohne die geringste aufreizende Übertreibung, Ihnen eine Plastizität und Monumentalität zu erreichen erlaubt, die aus dieser Folge ‚kleiner‘ Holzschnitte eine Folge beeindruckender Reliefs machen, eingemeißelt, wie es scheint, in de harten Stein des Portals einer Kathedrale oder in das Holz eines gotischen Chors.“ (P. Ritter, Frans Masereel und Henry van de Velde, in: „Philobiblon“, 33. Jg. H. 2, Juni 1989, S. 121)

Rainer Maria Rilke

„Wie glücklich hat mich diese üppige Bilderansammlung gemacht! Vom einen auf das andere Mal war ich von ihrer unerschöpflichen Fruchtbarkeit an Leben und Phantasie überrascht.“ (Lettres français à Merline 1919-1922. Paris 1950, S. 11)

Hermynia Zur Mühlen

Kein geschriebenes Wort ist es gewesen, das Belsazar, dem König von Babylon, das Ende seiner Herrlichkeit verkündete, stumm sind auch die Anklagen, die der Zeichner Frans Masereel seit Kriegsbeginn der entmenschten Welt ins Gesicht schleuderte. Der ganzen entmenschten Welt, denn dieser Belgier ist ein echter Internationalist, für den es weder Volk noch Rasse, sondern bloß Geknechtete und Unterdrücker, Recht und Unrecht gibt. Seine kundige Hand macht die Toten beredt („Les Morts parlent“), in zehn Holzschnitten, die den Untertitel „Höllische Auferstehung“ tragen, erscheinen die Geopferten ihren Schlächtern, den Munitionsfabrikanten, den „Patrioten“, den eigenen Angehörigen, deren Schwäche und Feigheit dem Morden nicht Einhalt tat. Noch grauenhafter, anklageschwerer ist seine zweite Mappe: „Auf ihr Toten!“ („Debout les morts“); Sterbende im Stacheldraht, von Flammenwerfern verbrannt, von Bajonetten zerfetzt, in den Fluten ertrinkend, ein Hexensabbath der Qualen, dessen schaurige Bilder Nacht für Nacht allen Heerführern, Diplomaten, Kriegslieferanten und Hetzjournalisten erscheinen müssen, bis sie vom Gefühl ihrer verbrecherischen Schuld zermalmt die Welt von ihrer Anwesenheit befreien. Rein sozial, dem Kriege fern sind Masereels fünfundzwanzig Bilder aus der Leidensgeschichte eines Menschen („Images de la passion d‘un homme“). Die Geschichte eines Proletarierkindes von der Geburt an bis zu dem Augenblick, da die Regierung (sei es nun die von gestern oder von heute) den erwachsenen Mann an die Wand stellt, um den Verfechter der Gerechtigkeit durch eine Kugel zu entlohnen. Aus wenigen wuchtigen Strichen brüllt aus diesen Bildern das ganze Elend einer im Namen des Christentums und der Ordnung geschändeten Menschheit. Masereel gehört zu jenen Künstlern, denen Kunst gleichbedeutend mit sozialer Verpflichtung ist, und dieser Verpflichtung sind nur wenige mit dem gleichen glühenden Eifer nachgekommen wie er. Fast jedes Dokument der Menschlichkeit, das die in die Schweiz geflüchteten Franzosen und Belgier (Guilbeaux, Jouve, Martinet etc.) während des Krieges hervorgebracht haben, trägt seine Mitarbeiterschaft. Von in der Schweiz erschienenen deutschen Büchern hat er Leonhard Franks meisterhafte Novelle „Die Mutter“ kongenial illustriert. Claude Le Maguets tapfere kleine Monatsschrift „Les Tablettes“ bringt allmonatlich ein von ihm gezeichnetes aktuelles Titelblatt, und in Jean Debrits „La Feuille“ zeichnet Masereel, den Ereignissen entsprechend, täglich einen Leitartikel von gewaltiger Phantasie, bitterem Spott, tiefgründiger Verachtung und unendlichem Mitleid. Keine anscheinend noch so geringfügige Begebenheit ist so klein, um Masereel nicht Gelegenheit zu geben, seine große Künstlerschaft zu beweisen, wenn es sich darum handelt, dass er für seine Ideale eintrete und kämpfe. Eine sozialistische Regierung, die es mit dem Sozialismus ernst meint, hätte die Pflicht, statt plumper, blödsinniger Anti-Spartakus-Plakate diese auch künstlerisch auf höchstem Niveau stehenden Propaganda-Blätter zu verbreiten. („Die Erde“ (Breslau), 1. Jg. H. 11 v. 1. Juni 1919, S. 351 – 352)

Kasimir Edschmid

„Wenn die ‚Connaisseure‘ und Affen finden, sein Kunstwerk sei zweifelhaft, begriffe er es nicht. Denn er arbeitet nicht wie Hirten und Lämmer in idyllischen Horizonten, sondern phantasiert sich durch die Zeitlichkeit hindurch mit jedem Herzschlag zu dem magnetischen Kern seines sozialis-tischen Zukunftsgefühls. Er platzt in das Foyer der versammelten gegenwärtigen Gesellschaft und jagt die dekollettierte Attrappe in Fetzen an den Rand seines graphischen Manifestes, in dessen Zentrum sein ethisches Postulat irgendwie zittert. Ein genialer und einzigartig neuer Journalismus der Gesinnung entsteht in der Zeichnung nunmehr, die nicht illustriert und niemals erzählt oder ergötzt und vertieft, sondern aufhetzt und heult und sich windet und blutet und am eigenen Leib jedes Laster und jede Barbarei des Krieges und der Revolution aufbrechen läßt. (…) Zwischen dem befrackten Zug der Gewalthaber, die Wolkenkratzer im Arm, ‚Taylor … Busineß‘-Schilder über sich, die Gesichte mit eisernen Corned-Beef-Larven plakatiert, anstürmen und dem Streiter im Stacheldraht stigmatisiert, zwischen Engel und Landschaft, Granatloch und dem Skelettzug der Mobilisierten bewegt sich rastlos sein Griffel. … das ist die Welt, durch die sein Aufruf heiß läuft. Tag für Tag geht seine Phantasie auf neue Schöpfungsform aus, erobert sich neue Bastionen und hißt, fast ersterbend vor soviel Bemühung, vor jedem Tod zwischen Unflätigem und scheußlichem Auswurf immer neu die humanitäre Standarte. Ein genialer Kontakt gibt ihm aus Wolffbericht, Tittonirede, Stefanimeldung, Reuterdrahtung, Diskurs des Senators Read, Anspruch des Bischofs von Canterbury das Wechselbild, das Gegenteil. Sagt Clemenceau in der Kammer, er habe gut geschlafen, verreckt in seiner Graphik ein Soldat am Marterpfahl.“ („Vossische Zeitung“ (Berlin) v. 16. Dezember 1919)


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