1914 | La folle (Radierung)

Paris und Tunesien

Erster Aufenthalt in Paris 1909; er lernt in Gent Pauline Imhoff kennen, mit der er 1910 nach Paris übersiedelt; den größten Teil des Jahres 1911 Aufenthalt in Tunesien, wo er sich der Malerei widmet; 1913 erste Radierungen und Holzschnitte; er lernt Henri Guilbeaux kennen.

“Vorms: Ich nehme an, dass Guilbeaux Sie, nachdem Sie zu ihm ein oder zwei Jahre vor dem ersten Weltkrieg freundschaftliche Beziehungen angeknüpft hatten, mit einigen seiner Gefährten in Kontakt gebracht hat. Masereel: Er hat mich mit der Mehrzahl von ihnen bekannt gemacht. Unter anderem mit dem Dichter Marcel Martinet, den Gewerkschaftlern Alfred Rosmer und Pierre Monatte, dem Journalisten Fernand Desprez und vor allem mit Léon Bazalgette, dem Übersetzer und Biographen von Walt Whitman, der fortan einer meiner besten Freunde geworden ist. Vorms: Genauer gesagt, hat Sie die Freundschaft, die Sie mit Bazalgette verband, das Werk Walt Whitmans entdecken lassen, oder kannten Sie es schon? Masereel: Ich kannte es nur wenig. Natürlich hatte ich einige seiner Gedichte gelesen, Bazalgette hat mir aber vor allem den Zugang zur Atmosphäre Whitmans erschlossen. Übrigens hatte er, wie Sie wissen, einen großen Teil seines Lebens der Übersetzung der ‘Grashalme’ sowie ihrem Autor eine monumentale Studie gewidmet. Vor allem war Léon Bazalgette von außergewöhnlich anziehendem Wesen. Als großer Bewunderer Romain Rollands wurde er nach dem ersten Weltkrieg im Verlag Rieder (dem ersten Sitz der Revue ‘Europe’) Leiter einer Sammlung internationaler Literatur, die in Frankreich eine große Zahl von zeitgenössischen europäischen Autoren bekannt machte, unter ihnen auch Cyriel Buysse, den flämischen Schriftsteller, der sein Freund war und der auch der meinige wurde. Um aber auf die Jahre vor 1914 zurückzukommen und auf Henri Guilbeaux, so ist zu sagen, dass er und ich sehr gute Freunde geworden waren. Ich lernte in ihm einen guten Poeten und Schriftsteller und vor allem einen ausgezeichneten Germanisten kennen, der die deutsche Literatur und ganz besonders die Dichtung von Grund auf kannte, aus der man ihm zahlreiche Übersetzungen verdankt. Durch ihn wurde ich auch in die jüngste zeitgenössische deutsche Dichtung eingeführt. Außerdem war er ein Mann voller Vitalität, sehr trocknen Witzes, sogar bizarr manchmal, ja ich möchte sagen, ein rechter Eulenspiegel. So kam es ihm später, während des Krieges, an, die Leute, die etwas provokatorisch und witzig, wie er war, auf den großen Boulevards anzusprechen, besonders wenn es sich um einen Herrn handelte, der viel Orden trug und den er dann zum Beispiel fragte: ‘Was, Monsieur, halten Sie von Poincaré?’ “ (Gespräche 1967, S. 21/22)

Brief an Henry van de Velde über die Arbeiten dieser Jahre

„Vor dem Krieg machte ich Realismus, sehr materiell und sehr flämisch, Kirmes, Volksbälle, Bettler, Dirnen, Matrosen, alles sehr grob, sehr gewaltsam und traurig. Ich suchte etwas anderes, aber ich war mir nicht darüber klar, dass das, was ich finden mußte, der Geist aller dieser Dinge war. Ich glaube, ihn gefunden zu haben und ich bin sicher, dass der Krieg hierbei mitgeholfen hat.”

(Zitiert von van der Velde im Abdruck der Eröffnungsrede zur Ausstellung in Mannheim 1929 in der “Frankfurter Zeitung” v. 21. November 1929)


@